Staatliche Geschlechtskontrolle abschaffen

Staatliche Geschlechtskontrolle abschaffen

Ärzte und Psychiater erkennen am besten, ob ein Mensch männlich, weiblich oder anders ist? Der Gesetzentwurf zum Geschlechtseintrag widerspricht dem Verfassungsgericht.

Bisher muss jeder Mensch beim Standesamt einem Geschlecht zugeordnet werden: männlich, weiblich – oder nichts. Da es jedoch verfassungswidrig ist, einen Menschen zu solch einem Eintrag ins Geburtenregister zu zwingen, ihn aber nur zwischen zwei Kategorien wählen zu lassen, hat das Bundesverfassungsgericht vor einem Jahr die Regierung beauftragt, das sogenannte Personenstandsrecht zu überarbeiten. Oder den entsprechenden Eintrag im Register ganz zu streichen. Das würde bedeuten, dass der Staat intergeschlechtliche Menschen nicht mehr dazu verpflichten würde, sich medizinisch kontrollieren zu lassen. Außerdem müssten sich transgeschlechtliche Personen keinen Zwangstherapien mehr unterziehen, um sich ihre Geschlechtsidentität psychiatrisch bescheinigen zu lassen. Doch so weit ist es leider noch nicht.

Zuständig für die Überarbeitung des Gesetzes ist das Ministerium des Innern, für Bau und Heimat unter der Leitung von Horst Seehofer. Ein entsprechender Entwurf wird gerade in Bundestag und Bundesrat diskutiert. Und man sollte gleich hinzufügen: Er ist indiskutabel. Anstatt das Gesetz gründlich zu ändern, will das Innenministerium offenbar am Status Quo festhalten. Der Gesetzesentwurf bietet zwar an, künftig die Geschlechtsangabe „divers“ eintragen zu lassen. Allerdings darf das der Mensch nicht selbst wählen: Eine Zwangsuntersuchung muss amtlich bestätigen, dass es medizinisch unmöglich ist, die Person als weiblich oder männlich zu definieren.

Während der Bundestagsdebatte am 11. Oktober erklärte der CDU-Abgeordnete Marc Henrichmann, man sei durch die vom Verfassungsgericht gesetzte Frist bis Ende Dezember unter Zugzwang und könne daher keine umfassende Gesetzesänderung vornehmen. Das ist Unsinn. Während sich Horst Seehofer auf seinen Krawallkurs gegen die Kanzlerin kaprizierte, taten seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Innenministerium einfach nur das Allernötigste, um die Forderung des Verfassungsgerichts wenigstens formal zu erfüllen. Henrichmann sagte außerdem, man könne den Geschlechtseintrag nicht streichen, da das die Frauenförderung gefährde. Auch das ist Unfug. Wenn das Geschlecht im Personenstand keine Rolle mehr spielen würde, hieße das nicht, dass die soziale Geschlechterordnung auf einen Schlag aufgehoben wäre. Die Angstfantasie, Menschen könnten die Strapazen auf sich nehmen, ihre Geschlechtsidentität zu ändern, um Mittel der Frauenförderung einzustreichen, ist grotesk.

Dass nun SPD, Grüne, FDP, Linke und auch Vertreterinnen der CDU/CSU den Entwurf überarbeitungsbedürftig finden, überrascht kaum. Erstaunlich ist allerdings, dass die Bundesfamilienministerin Franziska Giffey und die Justizministerin Katarina Barley, beide von der SPD, diese Gegenposition bisher nicht lautstark vertreten haben. Dabei wissen die Ministerinnen es besser als Seehofers Mitarbeiter: Unter Barleys Leitung, die bis März dieses Jahres Bundesfamilienministerin war, erschien eine Studie, die bestätigt, „dass sich eine Begutachtung der Geschlechtsidentität nur an der Selbstaussage jedes Menschen orientieren könne. Eine ‚objektive‘ Überprüfung der Geschlechtsidentität sei unmöglich.“ Selbst das Verfassungsgericht erklärte, dass nur die entsprechende Person selbst ihr Geschlecht bestimmen könne.

Schweigen Barley und Giffey also, um den Koalitionsfrieden zu wahren? Die SPD jedenfalls verpasst einmal mehr die Gelegenheit, Haltung gegenüber der Union zu zeigen. Und Seehofers Ministerium? Will man dort stur beweisen, dass man nicht bereit ist, Mehraufwand für Minderheiten zu betreiben? Das wäre in jedem Fall falsch gerechnet. Während der jetzige Kontrollapparat enorme Steuersummen vernichtet, zeigen Alternativmodelle wie in Malta, Dänemark, Irland, Chile, Argentinien, dass es auch einfach geht: Dort können die Menschen ihren Eintrag einfach beim Standesamt ändern lassen – ohne ärztliches Attest.

Die Haltung des Innenministeriums ignoriert gesellschaftlichen Wandel und gelebte Wirklichkeit. Im Kern der Debatte um den Geschlechtseintrag ins Geburtenregister geht es um Selbstbestimmung in einer demokratischen Gesellschaft – über den eigenen Körper, über das eigene Leben, über die eigene Identität. Niemand darf das Recht haben, über das Geschlecht eines anderen Menschen zu bestimmen, kein Arzt, kein Richter, kein Staat.


Quelle:

https://www.zeit.de/kultur/2018-10/personenstandsrecht-geschlechtseintrag-bundesverfassungsgericht-geschlechtsidentitaet-gender-intersexuell-transsexuell-bundestagsdebatte

JULE GOVRIN

Philosophin und Kulturtheoretikerin. Sie forscht zum Verhältnis von Begehren, Sexualität und Ökonomie.

ZUR AUTORENSEITE